Versonnen sitzt der Geissenjunge am Bergseelein, zupft ein Blümchen, schaut einem Schmetterling nach. Nein, es ist nicht Heidis Geissenpeter. Denn wenige Jahre später treffen wir den jungen Mann in Paris oder St. Petersburg wieder. Als Wirtschaftsflüchtling, als Unternehmer. Vielleicht, vielleicht kehrt er später als Millionär in seine alte Heimat zurück, mit Visionen und Pioniergedanken im Gepäck. Vielleicht aber auch nur mit einem abgwetzten Köfferchen voll Erinnerungen an der Hand …
Giovanni Netzer lässt den Schauspieler und die beiden Sänger, die romanische Volksweisen singen, verschiedene Interpretationen der Szene spielen. Aus dem Stehgreif, spontan. Mal sitzen sie da, mal dort am Bühnenrand des Wintertheaters in Riom, einer umgebauten Scheune. Am Freitag ist Premiere. Und Dienstag heute. Wir sind für ein paar Minuten an der Probe dabei. Kurz zuvor erst haben wir den Theaterintendaten der Nova Fundaziun Origen im Garten der Villa Carisch, die heute dem Festival gehört, kennengelernt. Bunte Fähnchen flattern im Wind und bilden einen luftigen Baldachin. Man wartet auf den Maler, der den Bühnenboden streichen soll.
Theaterdorf
Riom an einem heissen Julitag. Dass das Bergdorf ob Savognin stolz den diesjährigen Wakkerpreis tragen darf, ist eine Besonderheit. Denn nicht das Bergdorf hat den Preis erhalten, sondern die Nova Fundazum Origen «für ihren respektvollen Umgang mit dem gebauten Kulturerbe», wie es in der Pressemitteilung heisst. Giovanni Netzer führt uns heute durchs Dorf. Er nimmt sich Zeit, lässt sich auf das Gespräch und unsere Fragen ein. Dabei hat man das Gefühl, dass der Theatermacher auch jetzt gerade weiterdenkt, Visionen skizziert, vor seinem inneren Auge prüft und reifen lässt. Wie begann alles hier in Riom mit dem «Theaterdorf», wie Riom auch heisst? Zuerst war da die leere Burg, nach einer verregneten Festivalsaison. Ein Ort, wo man auch geschützt spielen konnte. Doch nur im Sommer. Dann ergab sich die Möglichkeit, die Scheune bei der Villa Carisch, die damals noch den Odernsschwestern von Menzingen gehörte, zu bespielen. «Drei Jahre haben wir den Bau so stehen lassen und provisorisch bespielt», sagt Giovanni Netzer. «Erst diese langsame Annäherung an den Raum hat uns gezeigt, was wir für Bühnenräume brauchen». Danach folgte eine intensive Auseinandersetzung mit den Architekten Gasser Derungs. Heute besteht die Bühne aus einer mittigen Bühne mit goldenen Tribünen, die jederzeit entfernt werden können. Ein Rundumtheater. Vom barocken «Guckkastentheater», das in traditionellen Theaterhäusern vorherrscht, hält Giovanni Netzer nichts. Zu starr, zu eindimensional. Denn hier oben geht es um Räume mit Geschichte(n), um die Präsenz der alpinen Landschaft. Um eine Durchdringung von fiktiven und realen Räumen. Die Schauspielerinnen und Schauspieler leben hier im Dorf für eine bestimmte Zeit. Das ist «schon eine ziemliche Knochenarbeit», sagt Netzer. Doch erst dies führt zu einer Identifikation mit dem Ort und den Rollen. Krisen inklusive.
Pioniergeist
Die Theaterstücke, die das Festival hier in Riom als Wandertheater oder neu auf dem Julier inszeniert, haben immer mit der Geschichte der Bündner Berge und dem Tal zu tun. Mit jenen Auswanderern etwa, die als Tourismus- oder RhB-Pioniere zurückkehrten und ihre Spuren hinterlassen haben. Diese Geschichte(n) recherchiert Giovanni Netzer und gewinnt aus ihnen den Bühnenstoff. Auch in Riom hat ein ausgewanderter Rückkehrer seine Spuren hinterlassen. 1867 erbaute der einstige Bauernbursche Lurintg Carisch, der in Paris zu Vermögen gekommen war, nach dem Dorfbrand einen Landsitz, die Villa Carisch und das ehemalige Gemeindehaus nebst Mühlen, Sägereien und Scheuen. Damals liess sich mit Geld und Visionen viel erreichen. 1867 – das war jene Zeit, als die Pioniere des Eisenbahnbaus auch das Bündnerland mit einem Schienennetz überziehen wollten. So existierte auch ein Projekt für eine Septimerbahn direkt an Riom vorbei. Was für Möglichkeiten, was für ein Potenzial! Gebaut wurden stattdessen der Gotthard-tunnel und die RhB durchs Albulatal. Der Talschaft Surses mit Savognin und Bivio blieben Wintertourismus und zu Beginn noch Landwirtschaft. «Heute gibt es noch anderthalb Bauern in Riom. Die Scheunen sind Abstellräume, keine Ställe mehr», so Netzer. Aber auch Räume, aus und in denen sich eine mögliche Zukunft für das Dorf entwickeln lässt.
Vorhandenes weiterdenken
In der Turnhalle des Schulhauses, die das Festival für ihre Büros hinzugemietet hat, präsentiert Origen alle Projekte, die für den Ort bereits mit unterschiedlichsten Akteuren entwickelt wurden. Studierende der ETH mit Gion Caminada haben Ideen und Konzepte für neuen Wohnraum in Riom entworfen: im ehemaligen Gemeindehaus und als neue Grossform im Dorf. Die Visualisierungen verdeutlichen: Es gibt kein Rezept, weder architektonisch noch konzeptionell, das dem Dorf Riom einfach übergestülpt werden kann. Dass sich eine Weiterentwicklung aus dem Vorhandenen ergeben muss, ist für Netzer zwingend. Keine halbjährigen Aufenthaltsmöglichkeiten für moderne Nomaden, wie dies Studierende der HSG St. Gallen vor dem Hintergrund aktueller Trends angedacht haben. Mit dem Projekt der Architekturstudierenden und Gion Caminada aber wurde die Idee der Werkstätten eingebracht. Nicht fremdes Kunsthandwerk soll sich hier etablieren, sondern das, was hier bereits Wurzeln geschlagen hat. Da ist zum einen das Kostümatelier: Sämtliche Kostüme für das Festival werden mit Stoffen von Jakob Schlaepfer eigens für die Schauspieler geschneidert. 400 Kostüme von Jakob Schlaepfers Art Director Martin Leutold sind es schon. Ein unglaublicher Fundus. Hier könnte man anknüpfen. Sich auf Kostümentwurf und -schneiderei spezialisieren. Von diesem Standpunkt aus will Netzer weiterdenken. Die Zukunft muss sich aus dem Festival heraus entwickeln, für die Schauspieler und die Dorfbewohner. Und mit Arbeitsplätzen. Einen anderen Weg gibt es nicht. Oder er zeichnet sich noch nicht ab.
In den grossen Fenstern des Wintertheaters in der ehemaligen Scheune spiegelt sich der Kirchturm. Das Bergdorf ist überschaubar und klein – umso wichtiger ist es, die Bevölkerung in den Prozess der Weiterentwicklung einzubinden.
Das Winter-theater ist auch Probebühne und ermöglicht gerade dadurch das Ausloten der Möglichkeiten des Raums. Ein Ort der Konzentration.
In der Burg zeigt Giovanni Netzer den Umbauentwurf von Peter Zumthor, der nicht realisiert wurde, aber die Architektur der Burg als Bühnenraum neu denkt.
Die Ausstellung in der Villa Carisch: Das Projekt eines Grandhotels für Riom zur Zeit der Belle Époque ist eine historische Fiktion. Kartonmodell, fiktive Briefe und Pläne sollen zu Gedankenspielereien mit der Zukunft anregen. Was wäre, wenn in Riom tatsächlich ein Hotel gebaut würde?
Gespielt und bespielt werden in Riom verschiedene Räume, auch der Garten der Villa Carisch.
Blick aus dem Fenster des Patrizierhauses Frisch, eines der Entwicklungsprojekte. Diesen Sommer kann man hier Zimmer in ihrem ursprünglichen Zustand buchen.
Die grau unterlegten Gebäude in Riom gehören der Nova Fundaziun Origen oder werden von ihr genutzt bzw. bespielt.